Sievershäuser Ermutigung 2010: Laudatio J. v. Dohnanyi

Und – ich hatte die Entwicklung einer jungen Frau und ihres Kindes erlebt, die sehr verwirrt, ja traumatisiert in Hamburg gelandet waren und die dann, einen kleinen Schritt nach dem anderen, ins Leben zurückfanden.

Und so war ich eigentlich guter Dinge, fühlte mich vorbereitet, als mich die Bitte erreichte, am heutigen Tag hier im Friedenszentrum Sievershausen die Laudatio auf Isabel Gámez zu halten.

Lassen Sie mich sofort eines sagen: ich hatte mich getäuscht. Die Arbeit an dieser Laudatio hat sich als Schwerstarbeit erwiesen. Die immer wiederkehrende Frage war: wie wird man einer jungen Frau gerecht, die unter den widrigsten Umständen, nämlich in einem Flüchtlingslager, aufwuchs, der diese Umstände schon früh Verantwortung auch für andere Menschen aufzwangen, die, durch diese Umstände bedingt, von klein auf mit einem auch ideologisch fest gefügten Weltbild aufwuchs, dass sich dann, beim ersten Zusammenprall mit dem Leben außerhalb der fest strukturierten Gruppe, als nur bedingt stimmig erwies, Wie wird man einem jungen Menschen gerecht, der im kindlichen Alter von 13 Jahren in einen der schwierigsten Berufe überhaupt, den des verantwortungsvollen Journalisten, hineinkommt, der sich in diesem Beruf nicht nur behauptet, sondern ihn als mehr als die bei uns inzwischen so gepflegte Form der Verbreitung sinnlosen Trallalas begreift, der andere Jugendliche zu einem Zeitpunkt ausbildet, da er selber gerade erst aus dieser Altersgruppe herausgewachsen ist, - der im Zuge seiner Arbeit aus Ueberzeugung großen Konzernen, mit ihnen verbandelten Lokalpolitikern und wichtigen wirtschaftlichen Interessen die Stirn bietet, der für dieses Engagement mit dem Tode bedroht wird, aus dieser Not nach Hamburg eingeladen wird - und der heute, nach kaum mehr als einem halben Jahr in unserer Mitte, den Unterschied zwischen einem Leben in Todesangst und einem in Freiheit, zwischen Kargheit und Ueberfluss, zwischen existentiellen und unseren eher lächerlichen Alltagssorgen erfahren hat.

Und der jetzt, am Halbzeit-Punkt seines Aufenthalts in Hamburg, zum ersten Mal überhaupt beginnt, sich über das eigene Leben, die eigene Zukunft, die eigenen Chancen, die Wünsche und Träume und die eines kleinen neunjährigen Jungens Gedanken zu machen.

Dieser junge Mensch, den ich Ihnen hier so stichwortartig vorgestellt habe, das ist Isabel Gámez, 25 Jahre alt, seit 12 Jahren Journalistin, und eine mutige dazu.

Ich glaube, mir zumindest in diesem Punkt ein Urteil erlauben zu können. Wir, die wir von einer sicheren Basis aus hineinfahren in Krisengebiete, tun dies aus freien Stücken. Wir können selbst entscheiden, wann eine Situation uns zu gefährlich wird und uns entsprechend zurückziehen. Wir haben sogar die Freiheit, auch nein zu sagen zu einem Auftrag, der uns als zu riskant erscheint.

Preisträgerin María Isabel GamézIsabel hat die Freiheit des Neinsagen-Könnens ohne persönliche Konsequenzen vor ihrer Ankunft in Hamburg nie gekannt. Die einzige Alternative, die sie gehabt hätte, als die Morddrohungen auf ihrem Handy ankamen, als es die ersten Toten unter ihren Mitstreitern gab, als Unbekannte nächstens in ihrem Haus nach ihr suchten – Isabels einzige Alternative wäre der Abschied von ihrem Beruf gewesen, das Wegducken vor Personen und Institutionen, die es gewohnt sind, ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen – es wäre, so hat sie mir einmal versucht zu erklären, die Flucht aus der Verantwortung gewesen, zu der von klein auf sie erzogen worden war, die Aufgabe all dessen, wofür sie bis dahin gelebt und gearbeitet hatte.

Aber noch einmal zurück zu den Anfängen, in die erste Hälfte der 80er Jahre. Es waren die Jahre eines blutigen und grausamen Bürgerkriegs in EI Salvador. Auch nachdem die Mörder des rechten Bündnisses Arena Erzbischof Romero an seinem Altar ermordet hatten, wüteten die Todesschwadronen weiter. Zehntausende hatten sich vor diesem Blutbad jenseits der Grenze, in Honduras, in Sicherheit gebracht. In der Regel blieben die Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern zurück, die Männer gingen zurück nach El Salvador, um in den Reihen der Guerilla gegen das Regime zu kämpfen.

Eine dieser Familien war die des Mechanikers  Gámez und seiner Frau. Ein Kind hatten sie schon, im vierten Jahr in Honduras kam dann ein Mädchen zur Welt, das sie auf den Namen Isabel tauften. Alles in allem würde Isabel schließlich sechs Geschwister haben. Und eine Großmutter, die als für ihre Entwicklung entscheidend beschrieben hat.

Wenn ich mir Isabels Großmutter vorstelle, muss ich unweigerlich an die Mutter meines eigenen Vaters, an Christine Bonhoeffer-von Dohnanyi wie sie in den Schreckensjahren des Nazi-Regimes mit ihrem Mann den Sturz der Hitler-Diktatur plante, wie sie, obwohl Mutter von drei Kindern und der Gefahr für das eigene Leben bewusst, dennoch nicht von dem abließ, was sie für wichtig und, mehr noch, für richtig hielt.

So eine Frau muss auch die Großmutter von Isabel gewesen sein. Bereit, alles, bis hin zum eigenen Leben zu opfern, um dem Arena-Terror ein Ende zu setzen. Im Gegensatz zu der meinen hat Isabels Großmutter auch mit der Waffe gekämpft. Und hat dabei doch nie vergessen, dass der Kampf mit der Waffe zwar vielleicht den militärischen Sieg, nie aber den Frieden erzwingen kann.

Für den Frieden braucht es mehr als Patronen. Dazu braucht es Wissen, Empathie, Toleranz, Kompromissbereitschaft - und Worte. Und all dies brachte sie ihrer kleinen Enkelin bei. „Ich will, dass Du, wenn Du groß bist, mit anderen Waffen kämpfst als ich" – so ungefähr muss sie es Isabel mehr als einmal gesagt haben.

Es hat, Sie mögen sich erinnern, dann einen Waffenstillstand zwischen der Regierung El Salvadors und der Guerilla gegeben. Die Guerilla gab vertragsgemäß ihre Waffen auf, die Flüchtlinge, darunter auch Isabel, durften aus den Lagern zurück,  zurück in die Heimat. Doch Frieden war das nicht. Die politische Kontrolle, ja die Unterdrückung der Opposition hielt ebenso an wie die Diskriminierung der Heimkehrer. Die zugesagte Teilnahme am Wiederaufbau des Landes, die versprochenen politischen Reformen, die erhoffte Verbesserung der beruflichen wie sozialen Chancen für die ausgemusterten Kämpfer – all dies erfüllte sich, wenn überhaupt, mit peinsamer Langsamkeit.

Isabel hat diese Jahre in einem abgelegenen kleinen Ort, in San Isidro verbracht. Die Erwachsenen - immer besorgt darüber, dass die Regierung mal wieder eines der vielen Versprechen brechen würde, dass es zu Verhaftungen und Repressalien kommen könnte. Wir alle kennen ja den Spruch, dass Kindermund Wahrheit kund tut. Bei uns mag das peinlich werden, wenn die Kleinen der zu Besuch kommenden Tante die wahre Meinung der Eltern ausplappern. Im San Isidro ging es schlicht um Leben oder Tod. Mit 15 Jahren wurde Isabel dazu bestimmt, die Jüngeren unter Kontrolle zu halten. Nichts sagen, kein Geheimnis verraten, sie immer bei der, auch ideologischen, Stange halten, sie ständig aufs Neue daran erinnern, dass sie, die Kinder, für die Zukunft El Salvadors mit verantwortlich seien.

Und das alles, bitte nicht zu vergessen, zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst, die 15-Jährige, schon seit zwei Jahren berufstätig war.

Hier ist der Punkt, für einen Augenblick von Isabels Arbeitgeber, von Radio Victoria zu sprechen: ein kleiner, von jungen Menschen gemachter Lokalsender in der Region von Santa Marta. Eine kleine Kooperative, finanziert mit Spenden der Bevölkerung, aber auch aus dem Ausland. Eine Rundfunkstation, nicht viel grösser als das, was bei uns ein Stadtteilsender wäre, aber eine Station, die nicht nur informiert, sondern die praktischen Ernst macht mit der Aufgabe, neben Informationen auch Wissen und Bildung zu verbreiten. Den Jugendlichen von Santa Marta, die sonst keinen Zugang zu Schulen hätten, bietet sich Radio Victoria als Lehr- und Ausbildungsstätte an. Radio Victoria ist, wenn man so will, das Herz der Gemeinschaft.

Hier hatte Isabel mit 13 Jahren angefangen zu arbeiten. Hier lernte sie zu recherchieren, die gesammelten Informationen auszuwerten, aus dem zusammen getragenen Durcheinander eine Story zu machen, einen Bericht, der ein Anfang und ein Ende hat und der versucht, den Zuhörern beim Verstehen der Ereignisse zu helfen. Und weil Isabel die Jugend gehabt hatte, die sie gehabt hatte, weil ihre Großmutter sie zu einem politischen Menschen erzogen hatte, war es für das Mädchen auch von Anfang an klar, dass sie, wenn überhaupt, eine politische Journalistin sein würde.

Schon nach wenigen Jahren war sie die Leiterin des Nachrichten-Ressorts, sie führte andere junge Menschen in die journalistische Arbeit ein. Ihre Themen wurden, neben der Beobachtung der von der rechten Arena dominierten Stadtverwaltung von San Isidro, das weite Feld der Menschenrechte, aber auch der Umgang der Behörden und der Unternehmen mit der Natur im Raum Santa Marta.

Schon bei uns — und von uns hier nicht allzu weit entfernt im Wendland können sie ein Lied davon singen — ist praktischer Umwelteinsatz nicht immer einfach. Für Isabel wurde der Naturschutz zur Gefahr des eigenen Lebens. Nur wenige Kilometer von San Isidro entfernt hatte der kanadische Bergbau-Konzern Pacific Rim größere Goldvorkommen entdeckt. Der Arena-Bürgermeister, schon in anderen Fällen der Korruption verdächtigt, hatte den Kanadiern eine Schürflizenz versprochen. Das kam der Journalistin Isabel Gámez zu Ohren, gemeinsam mit ihren Kollegen begann sie zu recherchieren. Sie entdeckte, wie schädlich der Abbau von Gold für die Umwelt in der Regel ist, sie ließ in ihren Sendungen profilierte Umweltschützer zu Wort kommen. Kurz und gut — es dauerte nicht lange, bis die Arena-Politiker, aber auch die Konzernvertreter entdeckt hatten, wer den wachsenden Widerstand der Bevölkerung gegen das Goldminen-Projekt schürte.
Einer der Umweltschützer verschwand. Wochen später wurde seine Leiche entdeckt – der Körper wies deutliche Folterspuren auf. Bei Isabel Gámez und ihren Kollegen gingen die ersten Todesdrohungen ein. Ein mit ihnen und den Umweltschützern sympathisierender Priester konnte seinen Entführern in letzter Sekunde entkommen. Es sei, hatte es vorher geheißen, höchste Zeit, mit den roten Pfaffen aufzuräumen.

25 Jahre alt war Isabel, als sie in das Leben zurück musste, das sie als Kind kennen gelernt hatte: das Leben im Untergrund. Jede Nacht in einem anderen Bett, immer in Angst um ihren Jimmy, der, wie jeder Junge seines Alters, natürlich viel lieber draußen mit den anderen gespielt hätte. Aber lässt man sein Kind in einem Land auf die Straße, in dem Mörderbanden schon mal einen Schulbus in die Luft jagen? In einem Land, das eine lange Tradition der Entführung auch von Kindern und Jugendlichen hat? In dem, weil der Staat wenig Interesse an der sozialen Entwicklung zeigt, immer mehr Jugendliche ihr Geld mit Drogenhandel verdienen?

Aber manchmal ist es im Leben ja wirklich so wie in der Kinderoper Hänsel und Gretel: Wenn die Not aufs Höchste steigt, heißt es da, Gott der Herr die Hand uns reicht.

Es gab Menschen außerhalb des Landes, die die Entwicklung in El Salvador beobachteten. Die von Santa Marta, von San Isidro, vom Einsatz von Radio Victoria und von der Lebensgefahr von Isabel Gámez und ihren Kollegen hörten. Urgent action, dringenden Handlungsbedarf signalisierte Amnesty im Fall von Isabel Gámez. Und dieser Notruf erreichte Martina Bäurle.

Vielen von Ihnen ist Martina Bäurle vermutlich schon seit langem bekannt. Im Gegensatz zu mir, der zum ersten Mal nach Sievershausen gekommen ist, ist Martina in der Vergangenheit immer wieder Gast hier im Antikriegshaus gewesen. Sie leitet seit nunmehr fast 20 Jahren die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Und vielleicht bin ich, da mich auch privat alles mit ihr verbindet, nicht ganz objektiv. Aber ich kann immer noch zuhören, wenn andere reden. Und da ist immer wieder von dieser Stiftung die Rede, die weit mehr Bedeutung und Einfluss hat, als nackte finanzielle Daten es vermuten lassen.

Was mit den Menschen geschieht, die sich aus Not und Bedrängnis für ein Jahr unter ihre Fittiche flüchten, das nenne ich immer das System Martina: ein ganz seltene Mischung aus hoher fachlicher Kompetenz, individueller, empathischer Betreuung, intensives Eingehen auf die Wünsche, die Hoffnungen ihrer oft schwer traumatisierten Gäste, aber auch, wenn notwendig, der liebevoll unsanft-sanfte Stoß zurück aus dem Schmerz ins eigene Leben.

Warum ich das hier sage? Ganz einfach, weil Isabel Gámez den kleinen Schubser brauchte, um sich nach ihrer Ankunft in Hamburg aus ihrer mehr als verständlichen Schockstarre zu befreien. Isabel Gámez ist mit Herzblut Journalistin, eine mutige Kollegin von mir, aber sie will mehr. Sie, die aus eigener Kraft, neben der Arbeit bei Radio Victoria, neben dem Aufpassen auf die Kinder, neben der Unterweisung anderer junger Menschen in die Do's und Don'ts des Journalismus die Hochschulreife in El Salvador erreichte, will studieren. Psychologie soll es werden, hat sie vor kurzem gesagt. Sie will die Menschen und das, was sie zu ihrem Handeln bewegt, besser verstehen lernen. Das neue Ziel versteht sie auch als Hommage an ihre vor kurzem verstorbene Großmutter, die sie zu ihrer großen Trauer nicht durch die letzten Stunden begleiten konnte.

Insofern könnte der Preis, den Sie heute an Isabel Gámez vergeben, gar keinen besseren Namen tragen. Die Sievershäuser Ermutigung ist Ermutigung, zugleich aber auch ein erstes greifbares Polster für Isabel, ihre neuen hohen Ziele anzupacken. Sie wird auf diesem Weg mehr Ermutigungen, mehr Beistand brauchen. Aber irgendwie, sagt Isabel, wird sie auch das packen. So, wie bisher eigentlich alles in ihrem Leben.

Sie, liebe Jury, haben meinem Empfinden nach eine sehr, sehr gute Wahl getroffen, als Sie sich für Isabel Gámez als diesjährige Preisträgerin entschieden. Sie wird ihren Weg machen. Und Sie haben ihr dabei geholfen.

Dafür danke ich Ihnen, und ich glaube, dies so auch im Namen von Martina Bäurle sagen zu dürfen. Und Dir, Isabel, wünsche ich, dass Du, zusammen mit Deinem Jimmy, einen Weg findest, Deine, Eure Wünsche und Träume wahr werden zu lassen.

 

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 Der Friedensort
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der 
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