Die vergessenen Zwangsarbeiter von Lehrte

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Zehntausende Menschen in Lagern durchgeschleust. Ein Historiker will die dunkle Vergangenheit jetzt aufarbeiten.

Von Achim Gückel im Anzeiger Lehrte/Sehnde vom 24.06.2023

Lehrte. Das Verfahren ist grob, schikanös und entwürdigend. Menschenmassen werden aus den Güterwaggons getrieben, registriert, müssen sich entkleiden, werden am gesamten Körper geschoren, kommen in eine Anlage zur Entlausung. Danach leben sie oft nur wenige Tage in diesem sogenannten Dulag, also einem Durchgangslager, und warten auf den Beginn der nächsten Etappe ihrer qualvollen Odyssee in einem fremden Land. Und diese nächste Etappe bedeutet den Transport zu einem Ort, an dem die Menschen Zwangsarbeit entrichten müssen – an Bahnanlagen, bei Bauern, in kriegswichtigen Fabriken.

Rund 130.000 Menschen haben das beschriebene Szenario am Rand von Lehrte ertragen müssen. Während des Zweiten Weltkriegs, von 1942 bis zum Kriegsende 1945, existierte auf dem heutigen Gelände des Unternehmens Miele am Ostrand der Stadt das Dulag. In einem stetigen Strom, der erst Ende 1944 weitgehend zum Erliegen kam, wurden dort sogenannte Ostarbeiter aus den von Deutschland besetzten Gebieten herangeschafft. Bis zu 7000 (August 1943) waren es monatlich. Viele wurden aus Polen verschleppt, die meisten aus der Sowjetunion, einige aber auch aus Italien, Frankreich oder dem Baltikum.

Geradezu unfassbare Zahlen sind das, hält man sich vor Augen, dass die Eisenbahnerstadt Lehrte damals nicht einmal 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. „Es ging im Lehrter Dulag zu wie auf einem Sklavenmarkt, Menschen wurden nach ihrer Arbeitskraft selektiert und dann zur Zwangsarbeit weitertransportiert“, sagt Heiko Arndt, Historiker aus Hannover. Einige der Deportierten seien ins Reichsbahnlager Ida am Eisenbahnlängsweg in Lehrte geschickt worden, die meisten aber in andere Gebiete im Reich. Das Dulag am Rande Lehrtes sei das mit Abstand größte seiner Art in Nordwestdeutschland gewesen, sagt Arndt.

Der Wissenschaftler arbeitet seit einem halben Jahr an einem ehrgeizigen Projekt, das weit und breit einmalig ist. Arndt hat den Auftrag bekommen, die Geschichte der Zwangsarbeit im Raum Lehrte von 1939 bis 1945 zu erforschen. Das tut er nun akribisch und in enger Abstimmung mit Stadtarchivar Jens Mastnak sowie Elvin Hülser, Geschäftsführer des Antikriegshauses Sievershausen, das offiziell als Träger des Projekts auftritt.

Historiker findet Aufzeichnungen

Rund 70.000 Euro kostet das zweijährige Vorhaben, das der Rat der Stadt Lehrte im Frühjahr 2022 einstimmig auf den Weg gebracht hatte. 50.000 Euro fließen allein aus dem Stadtsäckel, weitere 15.000 Euro kommen von der evangelischen Landeskirche. Im Januar begann Arndts Arbeit offiziell. Er verbrachte seither viel Zeit in Archiven in Hannover und Lüneburg, hat die lokalen Zeitungen aus der Kriegszeit ausgewertet und nach Bildmaterial geforscht.

Dabei förderte Arndt die Basis für seine wissenschaftliche Arbeit zutage. Er fand akribische Aufzeichnungen des Dulag-Leiters Fiebig, der von der Einrichtung des Lehrter Lagers im August 1942 bis zu dessen Ende allmonatlich Zahlen über die durchgeschleusten Personen auflistete, Angaben dazu machte, wie viele Frauen, Männer und Kinder es waren und wie viele Zugtransporte ankamen. Die Zahlen summieren sich auf die besagten 120.000 bis 130.000.

Mittlerweile kann Arndt widerlegen, dass bis zu 700.000 Menschen durch das Lehrter Dulag geschleust wurden. Diese Zahlen basieren auf ungenauen Aufzeichnungen und wurden in Lehrte mitunter ungesichert verbreitet. So leistungsfähig habe das Lager auf dem Mielegelände nicht sein können, auch im Vergleich mit ähnlichen Einrichtungen in Soest oder Neumarkt in der Oberpfalz.

Trotzdem bleibt der Gedanke an die menschenverachtende Nazi-Einrichtung am Stadtrand bedrückend. Warum gab es ausgerechnet in Lehrte solch ein Dulag? „Lehrte hatte durch den Bahnknoten die Infrastruktur zur Verteilung der Menschen“, sagt Mastnak nüchtern. Die Eisenbahnerstadt war quasi ein Drehkreuz für die Bahn und somit auch für die aus ihrer Heimat verschleppten Menschen, die dazu gezwungen wurden, in Deutschland die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten.

Das Reichsbahnlager Ida am Eisenbahnlängsweg, in dem Zwangsarbeitende für die Lehrter Bahnanlagen und den Verschiebebahnhof untergebracht waren, ist im Vergleich zum Dulag der kleinere Aspekt der wissenschaftlichen Aufarbeitung Arndts. Dort waren von 1942 bis zur Befreiung Lehrtes durch die Alliierten am 11. April 1945 in 16 Baracken bis zu 1200 Menschen gleichzeitig untergebracht. Die meisten kamen aus Russland und Polen. Erst Ende 2021 hatte Lehrtes Bürgermeister Frank Prüße (CDU) dort eine neue Stele zur Erinnerung enthüllt, die einen alten, verwitterten Gedenkstein ersetzte.

Im Lehrter Stadtarchiv findet sich indes nur wenig zum dunklen Dulag-Kapitel der Stadtgeschichte. Auch fotografisch ist dort nicht viel zu holen. Es gebe gerade mal zwei, drei Bilder vom Dulag, die teils sehr schlechte Qualität hätten, sagt Mastnak. Von Zwangsarbeitenden selbst sowie vom Lager Ida gibt es im Archiv kein einziges Foto aus der Kriegszeit, wohl aber aus jener nach dem Krieg.

Mastnak, Arndt und Hülser sind sehr glücklich darüber, dass Lehrtes Rat die historische Aufarbeitung in Auftrag gegeben hat. „Der einmütige politische Wille ist bemerkenswert“, meint Archivar Mastnak. Arndt geht sogar noch weiter. Die Aufarbeitung, die er bis Ende 2024 zu erledigen hat, sei „für einen Historiker wie mich wie ein Sechser im Lotto“, sagte er unlängst in einer Sitzung des Kulturausschusses. Ähnliche Projekte seien ihm nur aus der Wedemark und dem Landkreis Verden bekannt.

Am Ende soll dann eine Publikation über die Zwangsarbeit in Lehrte erscheinen. Solch eine Veröffentlichung werde sicher auch in Fachkreisen interessiert aufgenommen, meint Arndt. Für die Erstellung eines historisch fundierten Buches werde aber der Projektzeitraum von zwei Jahren nicht reichen. „Das Thema allumfassend zu beleuchten, wird kaum gehen“, sagt der promovierte Historiker. Dazu gebe auch die Quellenlage nicht genug her. Seiner Meinung nach könnte die historische Aufarbeitung auch Schulprojekte anregen. Arndts Arbeit könne auch „die NS-Zeit am eigenen Lebensort sichtbar machen“, wie er selbst sagt.


Quellenangabe: Lehrte/Sehnde vom 24.06.2023, Seite 1

 

 

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